Rusalka

«Die kleine Seejungfrau» von Hans Christian Andersen, die Oper «Rusalka» von Antonin Dvorak, das Drama «Die Meerjungfrau» von Alexander Puschkin und die «Meerjungfrau» im Hafen von Kopenhagen dürften bekannt sein.

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Was die russische Regisseurin Anna Melikian mit ihrem preisgekrönten Spielfilm schuf, hat entfernt damit zu tun, erweist sich indes als ein Film-Märchen der besonderen Art.

Es war einmal die Meerjungfrau Alisa, zu Hause in einer skurrilen Patchworkfamilie in einem kleinen trostlosen russischen Städtchen am Meer. Seit frühester Kindheit kann sie mit dem Meer sprechen und was sie sich wünscht, wird meistens wahr. Sie träumt davon, Ballerina zu werden, geht jedoch in die Sonderschule, weil sie mit sechs Jahren aufgehört hat zu sprechen. Mit achtzehn zieht sie nach Moskau. Dort schlägt sich mehr schlecht als recht durch, bis sie Sacha begegnet, in den sie sich unsterblich verliebt. Er ist Manager einer Firma, die Grundstücke auf dem Mond verkauft und auch bereits eine Freundin hat. Darüber verärgert wünscht sie ihm den Tod. Als sie jedoch realisiert, dass der Wunsch sich erfüllen könnte, setzt sie alles dran, sein Leben zu retten. Tagebuchmässig erzählt der Film Rusalkas Schritte, Sprünge und Salti hinein in die Erwachsenwelt.

Ein Märchen aus Fetzen harter Realitäten

Der Film bietet keine Romantik à la Disney, er kommt realistisch, grotesk, verrückt daher, erzählt kaleidoskartig ein Leben aus Fetzen harter Realitäten. Märchenhaft ist nur, dass er die Natur- und andern Gesetze durcheinander wirbelt. Anstelle sentimentaler Idyllen donnert der Strassenverkehr durch die Szenen, gerät Alisa in dubiose Gangs, wo getrunken und gekifft wird, kommt sie mit abgebrühten Yuppis und abgefuckten Taugenichtse in Kontakt, wird angemacht und übers Ohr gehauen. Doch das starke Mädchen wehrt sich gegen alle und alles: schreit, flieht, kämpft und überlebt, versucht, sich treu zu bleiben und findet immer wieder Schleichwege und Schlupflöcher, um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Bilder einer etwas andern Entwicklungspsychologie

Dem Inhalt entsprechend torkelt der Film auch mit einer unverbrauchten, frechen, modernen, unterhaltsamen Filmsprache durch Zeiten und Räume. Überraschung folgt auf Überraschung, Einfall auf Einfall. Ohne sich didaktisch zu geben, erzählt er voll praller Sinnlichkeit und schäumender Lebenslust die Geschichte einer modernen «éducation sentimentale», die sich durchaus mit den bekannten Entwicklungsromanen der Literatur messen kann.

Der Film ist, nach ängstlichen Elternmassstäben, die in der Schule ja auch berücksichtigt werden müssen, vielleicht nicht immer ganz «jugendfrei». «Jugendgeeignet» jedoch scheint er mir allemal, weil er ehrlich, echt, authentisch, realistisch, zu tiefst wahr und berührend menschlich ist. (Doch für wen eignet sich dieser wunderbare Film? Kinder im Märchenalter dürfte er überfordern, Jugendliche in der Pubertät sehen sich kaum gern als Märchenfigur.) Menschen, die sich interessieren, was wirklich abläuft auf dem Weg vom Jugendlichen zum Erwachsenen, also Lehrpersonen, Eltern und aufgeweckte Jugendliche, werden sich herrlich amüsieren und zudem Denkanstösse fürs eigene Leben und Verständnis für das Leben heutiger Jugendlicher erhalten. «Keine reine Komödie, aber auch keine Tragödie. Ein bisschen von allem. Wie das Leben eben», beschreibt Rusalka ihr Abenteuer im russischen Trailer.