Le Havre

Ein Meisterwerk von Kaurismäki: Ein Alter kämpft gegen einen unmenschlichen Staatsapparat

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«Das europäische Kino hat sich bisher nicht sonderlich mit der sich ständig verschlimmernden finanziellen, politischen und nicht zuletzt moralischen Krise beschäftigt. Diese Krise ist auch die Ursache für die weiterhin ungelöste Flüchtlingsfrage. Immer mehr Menschen suchen verzweifelt nach einem Weg in die Europäische Union und werden dann, einmal angekommen, fragwürdigen Behandlungen und menschenunwürdigen Lebensumständen ausgesetzt. Auch wenn ich selber keine Lösung habe, möchte ich mich trotzdem mit diesem, wenn auch unrealistischen, Film dem Problem widmen.» Soweit der finnische Meisterregisseur Aki Kaurismäki zu seinem neuen und eindrücklichen Spielfilm «Le Havre», dessen Handlung sich wie folgt abspielt:

Marcel Marx (André Wilms, Titelbild), früher Schriftsteller und Bohemien, hat sich vor Zeiten in sein frei gewähltes Exil, die Hafenstadt Le Havre, zurückgezogen. Hier geht er der ehrenwerten, aber nicht sonderlich einträglichen Tätigkeit eines Schuhputzers nach. Der Traum vom literarischen Durchbruch ist längst begraben, er führt ein zufriedenes Leben mit seiner Frau Arletty (Kati Outinen, Titelbild). Plötzlich erkrankt diese jedoch schwer, und zudem kreuzt das Schicksal den Weg von Marcel in Gestalt des minderjährigen Flüchtlings Idrissa aus Afrika. So wird er doppelt gefordert: seine kranke Partnerin zu begleiten und sich für den Flüchtling einzusetzen. Seine Waffen sind ein spontanes und fantasievolles Zupacken, ein unerschütterlicher Optimismus und die ungebrochene Solidarität der Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers. Mit deren Hilfe tritt er gegen den blindwütigen Machtapparat des Staates, verkörpert durch Kommissär Monet, an, der die Schlinge um den Flüchtlingsjungen immer enger zieht. Für Marcel wird es Zeit, seine Zähne zu zeigen...

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Marcel mit Idrissa

Wie eine Bergpredigt für das 21. Jahrhundert

In seinem neuen Film «Le Havre» wirkt Kaurismäki kämpferisch wie in «The Man Without a Past» aus dem Jahre 2002 und gleichzeitig poetisch wie in «La vie de bohème» von 1991 oder «Das Mädchen aus der Streichholzfabrik» von1989.

Kämpferisch stellt Marcel sich einer der aktuellen Fragen unserer Zeit, der bereits begonnenen und wohl noch lange andauernden grossen Völkerwanderung von Süden nach Norden, der geopolitischen Ausgleichsbewegung zu der hintergründig immer noch herrschenden Kolonialisierung. Marcel solidarisiert sich mit dem jungen Schwarzafrikaner, dessen Flucht ihn von Le Havre zu seiner Mutter nach London führen soll. Auf der Bühne dieses lokalen Welttheaters werden verschiedene Lebensrollen gespielt: mit persönlichem Einsatz dem Jungen Schritt um Schritt den Fluchtweg ermöglichen, mit Freunden und Nachbarn zusammenarbeiten und die nötige Unterstützung bereitstellen, ein Doppelspiel spielen, scheinbar mit der Polizei kollaborieren und am Schluss dem Jungen dennoch die Flucht ermöglichen.

Poetisch ist die Aufmachung und Ausgestaltung der Handlung des modernen Märchens. Nachdem die Geschichte auf wunderbare Weise dahingeflossen ist, geschieht vollkommen unerwartet am Schluss ein veritables Wunder. Seine unheilbar kranke Frau wird, medizinisch unerklärlich, von einer Minute auf die andere geheilt. Und am Schluss leuchten nicht nur die Augen des aus dem Spital zurückgekehrten Ehepaares, verlässt nicht nur Idrissa auf einem Kutter den Hafen von Le Havre gegen England, sondern blüht auch, wie es sich für ein richtiges Märchen gehört, ein Kirschbaum in seiner vollen Pracht. Dieses fast Zuviel des Guten bedeutet wohl, dass das, was wir während 93 Minuten erlebt und genossen haben – leider – nicht Realität, sondern bloss Wunschdenken, ein Traum, ein Märchen ist. Der blühende Kirschbaum als Ausdruck des Paradiesischen am Schluss ist die Antwort auf die Schüsse aus dem Off am Anfang des Films, die eine kriminelle Tat im Umfeld der Schuhputzerszene andeuten, womit im Leben, in der Welt, das Kriminelle, das Höllische als das eigentlich Reale obsiegt.

Das Märchen lebt von einem solch tiefen Glauben, dass es für mich geradezu religiös, ja biblisch anmutet und ich die im Film gemachte Erwähnung der Bergpredigt als nicht nebensächlich verstehe. Für mich schuf Kaurismäki in Bildern und Sätzen, Szenen und Abläufen eine wirkliche Bergpredigt, wie sie von Menschen im 21. Jahrhundert gelesen und verstanden werden kann.

Sein Gesamtwerk ist für seinen lakonischen, skurrilen und sparsamen Stil bekannt. Seine Helden sind, wie jene im Neuen Testament, die «kleinen Leute»: die Aussenseiter, die Arbeiter und die Arbeitslosen, die Verlierer, die Geschlagenen und Verachteten in unserer weiterhin wütenden kapitalistischen Gesellschaft. Wie kaum ein anderer Regisseur betrachtet er die in ihrem Milieu verlorenen Menschen mitleidvoll, liebevoll, gelegentlich mit Humor, doch niemals spöttisch. Formal und damit auch geistig erinnert er in diesem wie seinen früheren Filmen an die Kargheit des Asketen Robert Bressons, die Heiterkeit des Erzählers Jacques Becker, den Humor des Komikers Jacques Tati und den tief pessimistischen Humanismus von Marcel Carné, dessen «Hotel du Nord», ebenfalls mit einer Arletty in einer Hauptrolle, im selben Milieu und in einem ähnlichen Quartier gespielt hat wie «Le Havre». Mit diesem Film hat der Finne ein Märchen über die Güte in einer unguten Welt geschaffen, das, wie ich meine, Bestand haben dürfte. – Der alte Mann, Marcel Marx, ist ein Protestierender, ein Aktivist, ein Engagierter, ist Bruder, Freund und Liebender zugleich – und damit vielleicht auch Vorbild für alte Menschen, die, frei von beruflichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen, Zwängen und Abhängigkeiten, jetzt endlich das tun können, was sie schon immer wollten, zum Beispiel sich für die Nächsten engagieren.

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Marcel Marx und Monet

Aus einem Interview mit Aki Kaurismäki

Woher stammt die Idee zu «Le Havre»? Wurden Sie beeinflusst durch die immer dramatischer werdende Flüchtlingssituation? Oder wollten Sie einfach mal wieder einen Film in Frankreich drehen?

Die Idee für den Film habe ich bereits seit einigen Jahren, aber ich wusste lange Zeit nicht, wo ich ihn drehen soll. Eigentlich könnte die Geschichte überall spielen, in jedem europäischen Land. Nun ja, vielleicht nicht im Vatikanstaat. Oder vielleicht doch gerade dort. Die am nächsten liegenden Staaten wären sicherlich Griechenland, Italien und Spanien gewesen, tragen sie doch, gelinde gesagt, die Hauptlast dieses Problems. Wie auch immer, auf der Suche nach einer geeigneten Stadt fuhr ich die gesamte Küste von Genua bis Holland entlang und fand, was ich suchte, in Le Havre, der Stadt des Blues, Souls, und Rock ‘n’ Rolls.

Der Wahlspruch Frankreichs lautet «Liberté, égalité, fraternité». Sieht so aus, als wäre für Sie nur noch die Brüderlichkeit übrig geblieben?

Nun, die anderen beiden waren meiner Meinung nach schon immer zu optimistisch. Aber Fraternité findet man überall, sogar in Frankreich.

Diese Brüderlichkeit unter den Bewohnern des Fischerviertels von Le Havre rettet den Jungen im Film, aber existiert sie auch im realen Leben?

Ich hoffe doch sehr. Wenn nicht, leben wir bereits in dieser Gesellschaft der Ameisen, die Ingmar Bergman prophezeite.

Ich habe das Gefühl, dass Sie umso mehr Zuversicht in die Menschheit haben, je zerstörerischer und gewalttätiger das Miteinander auf der Erde wird. Verwandeln Sie sich am Ende noch in einen hoffnungslosen Optimisten?

Ich bevorzugte schon immer die Version des Märchens, in welchem das Rotkäppchen den bösen Wolf frisst. Im wirklichen Leben ziehe ich allerdings selbst Wölfe den blassen Männern der Wall Street vor.

Um die Immigration zu symbolisieren, setzen Sie auf einen Jungen aus Afrika. Ist diese Jugend ein Zeichen für die Hoffnung?

In meinen Filmen gibt es keine Symbole, aber im Allgemeinen vertraue ich Jugendlichen mehr als alten Typen wie mir. Was jedoch auch nicht viel bedeutet. Zumindest habe ich vollstes Vertrauen in Blondin Miguel, der im Film den Jungen spielt.