Captain Handicap

Bei den Proben für ein Projekt von theaterbesessenen Jugendlichen und Behinderten begegnen sich Marie, Daniel und Alfredo zum ersten Mal. Das Stück «Captain Handicap», das sie miteinander erarbeiten und aufführen, wird ein voller Erfolg, der schwerbehinderte Alfredo Gonzales de Linares in der Hauptrolle wird über Nacht zum Star.

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Spuren wechseln, Wege finden

Zwei Jahre später ist Daniel Wahl, der damals inszeniert hat, erfolgreicher Regisseur, Marie Leuenberger, die Captains Schwester gespielt hat, besucht die Schauspielschule, und Alfredo, seit seiner Kindheit an den Rollstuhl gefesselt, wagt es, beflügelt vom Theaterhit, den riskanten Sprung in die Welt der «Normalen», wo er sich um jeden Preis mit Daniels Hilfe seinen Platz erkämpfen will.

Er verlässt das Behindertenheim, wo er Kondome abgefüllt hat, und zieht in ein Wohnheim, wo er unabhängiger leben kann und sich nebenbei als Leadsänger einer Band betätigt. «Das Projekt hat mein Leben auf den Kopf gestellt. Ich bin jetzt etwas durchgeknallter als vorher», gesteht er. Durch den Zuspruch «Du kannst es!» gelingt es ihm, die «Spur» zu wechseln. Daniel behandelt ihn nach dem Prinzip «Fördern durch Fordern».

Beim Betrachten der Videoaufnahmen von damals kommt es auch mal zu heftigen Auseinandersetzungen, bei denen sich Alfredo fragt «Was bringts?» und feststellt «Für mich ist das „too much“. Ich finde es nicht in Ordnung». Er hat seinen eigenen Weg gefunden!

Wieder sehen, weiter spielen

Ein Jahr danach. Erheiternd und zugleich ergreifend ist die Szene, in der Alfredo auf seinem Elektromobil durch einen Basler Park der überglücklichen Marie entgegen fährt, dabei schreit, heult, jauchzt, weint, sie schliesslich umarmt und kaum mehr von ihr lassen kann. «Kein Behindertenprojekt war es», meint Marie, «sondern ein Menschenprojekt». Denn Behinderte sind so normal – oder so abnormal – wie wir.

Zwei Jahre nach der ersten Begegnung nehmen die drei die Spuren von damals wieder auf und verbringen vier Tage in einem romantischen Haus am Genfersee. Alfredo ist noch immer «getrieben vom Wunsch nach Verwirklichung». Wie jeder Mensch, denke ich. Weshalb der Film auch alle, nicht nur Behinderte etwas angeht. «Du nimmst mich, wie ich bin», meint Alfredo zu Daniel, bevor sie miteinander ein neues Theaterprojekt beginnen, bei dem er allein auf der Bühne stehen wird, das von einem Stier und einem Matador handelt...

Altes hinterfragen, Neues andenken

Es dürfte sich lohnen, in der Ausbildung für sozial- und heilpädagogisch Tätige mit diesem Video ins Thema Behinderung einzuführen. Denn es enthält zahlreiche Themen, die dabei zu behandeln sind. Es bietet dafür Bilder an, die vieldeutig, Erlebnisse, die individuell, und Erfahrungen, die ganzheitlich sind. Lernen aus dem Erleben und der künstlerischen Erfahrung, als Ergänzung zum traditionellen Lernen aus der Wissenschaft und der Theorie! – Kurz angetippt nachfolgend einige Themen, die im Film aufscheinen, zum Erlebnis werden und im Anschluss weiter zu hinterfragen und zu bearbeitet sind.

  • Probehandelnd, wie es im Wesen solcher Projekte liegt, wurde hier das Thema des Freiraumes, der Freiheit allgemein des behinderten Menschen angedeutet. Wer definiert die Grenzen der Autonomie der Beteiligten auf den verschiedenen Seiten?
  • Gezeigt wird in diesem Projekt, dass, analog zum Satz von John Dewey «Wir lernen, was man tut», Tun als pädagogisches und therapeutisches Lernen verstanden wird. Es stellt sich die Frage, wie dies verstärkt, gefördert werden kann.
  • Das künstlerische Gestalten, die Transformation der Natur in Kunst, in eine künstlerische «Gestalt», erleben wir in unserem Beispiel am Beispiel des Theaters. Dasselbe könnte auch mit verschiedenen andern Mitteln bewerkstelligt werden.
  • Wer kann und darf ein solches Projekte realisieren? Welche Qualifikationen sind von den Beteiligten zu verlangen? Gezeigt wird im Film kein fingiertes Idealphantom eines Leiters, sondern ein konkreter Mensch aus Fleisch und Blut.
  • Zu denken geben mir die Äusserungen von Alfredo, dass er sich von den andern Behinderten abgrenzen wolle. Denn überall scheinen, so finde ich, neue Segregations- und Eliminierungsprozesse zu funktionieren und sich auszubreiten.
  • Künstler sind im Allgemeinen keine Pädagogen. Sie kommen meist mit viel Autorität, Egoismus, Leidenschaft, Fanatismus und «feu sacré» daher, mit denen sie auch anecken, provozieren, verletzten, «verbrennen» können. Wie gehen wir damit um?
  • Theater Spielen hat mit Kommunikation, Ehrlichkeit, Authentizität, mit wahren und falschen Gefühlen zu tun. Dies sind aber auch Kernbegriffen der Pädagogik. Weshalb die Zusammenarbeit in einem solchen Projekt allen nützen dürfte.
  • Auch die Fragen der Abgrenzung zwischen Beruf und Privat ist in der Pädagogik immer wieder neu zu stellen. Genügt es, «nach bestem Wissen und Gewissen unterwegs zu sein und den Partner und sich ernst zu nehmen», wie es der Regisseur postuliert?

Erlebnis-Lernen mit Video

Mit «Captain Handicap» schufen Sibylle Ott und Dominik Labhardt einen informativen, Auseinandersetzungen provozierenden und bereichernden Dokumentarfilm über ein Projekt der Soziokultur, der Sozialpädagogik und der Heilpädagogik. Dieses kommt unterhaltsam und leicht daher und gibt sich spontan, liefert bei näherem Hinsehen und -hören jedoch einen reichen Erfahrungsschatz, der sich für einen intensiven privaten wie öffentlichen Diskurs eignet.

Ein wesentlicher Mehrwert, den das Video zusätzlich zum Theaterprojekt erbringt, besteht im Ambiente, das erzeugt wird, im Dekors, in den Landschaften (Kamera Dieter Fahrer) mit den stimmigen und viel sagenden Bildern. Etwa die Glück verströmenden poetischen Aufnahmen an den Gestaden des Lac Léman, aber auch die städtischen und häuslichen Orte und Räume, die Mauern, Strassen, Plätze, welche die Befindlichkeit besonders der Behinderten beschreiben. «Die Architektur ist das stärkste Massenmedium», sagt Walter Benjamin. Sie prägt den Menschen wesentlich. Wenn uns bei diesem Film nur schon dieses über das Erleben bewusst wird, hat er sich gelohnt. Er lässt uns erleben, dass Menschen weniger «behindert sind», als vielmehr «behindert werden».

Mit poetisch intensiven Bildern und Tönen (Musik Markus Fürst, Michael Pfeuti, Tassilo Dellers) schliesst das Video «Captain Handicap», indem es uns an «Modern Times» von Charles Chaplin erinnert. In einer traumhaft schönen Landschaft wandern die drei Menschen am Schluss auf der Landstrasse in den Hintergrund hinein, in die Zukunft, ins Ungewisse, ins Glück. In eine andere Welt? Rechts Alfredo im Rollstuhl, in der Mitte Daniel und links von ihm Marie, die beide sich umarmen.

Das 55-minütige Video kostet für Private Fr. 50.–, für Institutionen Fr. 100.– und ist zu beziehen bei freihändler filmproduktion gmbh, Hüningerstrasse 85, 4056 Basel, Telefon 061 386 98 30, E-Mail mail@freihaendler.ch. www.freihaendler.ch