Zimmer 202 - Peter Bichsel in Paris

Eric Bergkraut (Regie) schuf zusammen mit dem Kameramann Pio Corradi und der Musikerin Sophie Hunger ein Filmportrait des Schweizer Schriftstellers Peter Bichsel, wie es nicht schöner und klüger sein könnte.

202-sozialist.jpg

«Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich Peter Bichsel erstmals vorschlug, nach Paris zu fahren. Er reagierte wie unter Schock und sagte, das könne er nicht tun, denn er habe sich geschworen, niemals in diese Stadt zu gehen. Ich dachte schon, ich müsste mir meinen Film abschminken, aber dann einigten wir uns darauf, bis in die Gare de l’Est zu reisen. Ich reservierte im Bahnhofhotel für Peter die „202“ und für uns die Nachbarzimmer. Ein Programm gab es nicht, das Abenteuer konnte beginnen.» So schreibt der Autor des Dokumentarfilms «Zimmer 202 – Peter Bichsel in Paris», Eric Bergkraut, 1957 in Paris geboren, mit vier Jahren in die Schweiz gereist, Schauspielakademie Zürich, TV- und Kinofilme in Deutschland, der Schweiz und Frankreich, seit 1992 Dokumentarfilmregisseur.

202-zug.jpg

Das Abenteuer der Paris-Reise

Im Untertitel «Peter Bichsel in Paris» ist das künstlerische Abenteuer dieses Unternehmens angedeutet. Denn Bichsel war in seinem Leben noch nie in Paris und wäre von sich aus auch nie dorthin gefahren. Doch er ging, wohl dem Filmemacher und dem Abenteuer zu liebe. Und geworden ist daraus ein wunderbarer Film über Peter Bichsel und gleichzeitig ein Essay über das Schauen, das Reisen, die Schweiz, die Politik, die Literatur, die Schule, die Liebe, die Zeit, das Altern und vieles mehr. Der Film über die fünf Tage im symbolträchtigen Paris unterscheidet sich wohl von allem, was wir über diese Stadt schon gesehen haben. Bichsel blieb nämlich meist im Zimmer des Hotels Gare de l’Est, schaute aus dem Fenster, flanierte um den Bahnhof herum, sah sich auf dem Laptop die Tour de France an und fuhr erst ganz am Schluss mit der Metro in den Jardin du Luxembourg.

Ungewöhnlich und eindrücklich diese Art, sich Paris, sich der Welt zu nähern. Sensationell möchte man sagen, wenn das Wort nicht so abgegriffen wäre. Denn in diesem Film geschieht wirklich eine Sensation, was ursprünglich ein besonderes Empfinden, ein besonderes Verstehen bedeutete. Wir lernen, anders zu empfinden und zu verstehen als üblich. Behutsam und leise die Dinge an sich herankommen lassen, um sich wahr zu nehmen und in Worte zu fassen. Immer wieder zieht er den Vorhang seines Zimmerfensters auf, schaut hinaus und sinnt. Immer und immer wieder geht er durch die Räume und Gänge, erblickt Neues und Vertrautes. Immer wieder flaniert er über den Platz vor dem Bahnhof und in die nächste Umgebung und schaut...

Er verweilt vor dem, was er sieht. Er lässt die Welt passiv auf sich zukommen, in sich aufnehmend, wahr nehmend. Eine ganz andere Weise des Umgangs mit der Welt als üblich. Das genaue Gegenteil der Haltung des (gefährlichen) Bibelwortes «Macht euch die Erde untertan», mit dem die Menschen, vor allem die Männer, die Welt sehen, erobern, in Besitz nehmen. Bichsel belässt die Welt, wie sie ist. Er lässt sich von ihr beeindrucken, nimmt sie und deren Botschaft an und auf.

Der Zug, das Zimmer, das Hotel – die Welt


202-telefon.jpg

«Weist du schon, was du heute unternehmen willst?», fragte der Filmemacher, und Bichsel antwortete: «Ich bin jetzt einmal hier. Ich muss eigentlich gar nichts unternehmen. Ich kann mich auch auf eine Bank setzen und eine Zigarette rauchen und zuschauen», was er dann auch tut. Er verweilt, hat Zeit. Er verliert seine Zeit an die Welt. In einer Art, die mich an «Le petit prince» von Antoine de Saint-Exupéry erinnert. An Sätze wie: «Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennenzulernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr.» Oder «Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig.» Es ist dies eine in höchstem Masse liebende Haltung der Welt gegenüber. Nicht zum Sehen, sondern zum Schauen werden wir angehalten. Und wieder führt es zum kleinen Prinzen: «Hier ist mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.»

202-fruehstueck.jpg

Der Film-Essay hat Bodenhaftung, bietet Konkretes über Peter Bichsel. Neben den Paris-Sequenzen in eingeschobenen Rückblenden, Gesprächen und Zitaten: seine Biografie, den Schulmeister, den Ehemann und Junggesellen, den Poeten, den politisch Engagierten, den Wanderer, den Gast im Wirtshaus oder bei Schwingfesten und so weiter und so fort. Diese Aspekte seiner Persönlichkeit sind assoziativ, kontrapunktisch, dialektisch in den Paris-Teil eingebaut. Und dabei hört man so viel Spannendes, Anregendes, dass man sich am liebsten alles notieren möchte. (Eine kleine Auswahl finden sich am Schluss. Wenn die DVD des Films einmal erschienen ist, gehört sie ins Büchergestell jedes Bichsel-Freundes.) Dass das Viele, Vielfältige über die Person jedoch nicht einfach aneinander gereiht, sondern eingebaut ist in das Ereignis Paris mit zahllosen symbolischen Ober- und Untertönen, macht diese Reise zu einem ästhetischen Ereignis. Sein Zimmer, der Blick auf den Bahnhofplatz, der Gang im nahen Quartier, das ist immer mehr als das. Es ist die Welt, die ganze Welt, gesehen mit den Augen eines Liebenden.

Die filmische Umsetzung wird von einem grossartigen Team geleistet: fliessend wechselnd von Episode zu Episode, von der Schweiz nach Paris, und seinem Aufenthalt in im Gar de l’Est zu den Einschüben und Rückblenden. Mit den wunderschönen Bildern von Pio Corradi, der feinen, Akzente setzenden Musik von Sophie Hunger, der Sinn schaffenden Montage von Vendula Roudnicka und der umfassenden Vision von Eric Bergkraut.

202-parisienne.jpg

Auf der Suche nach Rilkes Karussell in Paris

Unvermittelt fragt Bichsel gegen Ende seiner Paris-Woche, sechs Minuten vor Film-Schluss, nach dem Karussell, das Rainer Maria Rilke in seinem 1906 entstandenen Gedicht «Jardin du Luxembourg» beschrieben hat. Zum ersten Mal nimmt er die Metro und fährt einige Stationen hinaus, zum Jardin. Weiter entfernt vom Hotel war er bisher nie als bis hier, wo er das Karussell sucht und findet.

Für Bichsel wird hier wohl das Kunst-Werk, das Gedicht, zum Werk-Stück, das Karussell, und umgekehrt. Hier geschieht für ihn etwas Bedeutendes. Erwartungsvoll wie ein Junge vor dem ersten Rendez-vous betritt er den Jardin, bleibt stehen, lehnt einen Arm an einen Baum – schaut, schweigt und ist gerührt. Auch ich musste den Atem anhalten. Und dann fasst er sich: «Ich brauche Paris eigentlich nicht. Aber dieses Pferd schon. Und dann und wann, einen weissen Elefanten. Und die Gar de l’Est liebe ich inzwischen in Realität.»

Jardin du Luxembourg (Rainer Maria Rilke)

Mit einem Dach und seinem Schatten dreht

sich eine kleine Weile der Bestand

von bunten Pferden, alle aus dem Land,

das lange zögert, eh es untergeht.

Zwar manche sind an Wagen angespannt,

doch alle haben Mut in ihren Mienen;

ein böser roter Löwe geht mit ihnen

und dann und wann ein weißer Elefant.

Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,

nur dass er einen Sattel trägt und drüber

ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.

Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge

und hält sich mit der kleinen heißen Hand

dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und auf den Pferden kommen sie vorüber,

auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge

fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge

schauen sie auf, irgendwohin, herüber –

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,

und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.

Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,

ein kleines kaum begonnenes Profil –.

Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,

ein seliges, das blendet und verschwendet

an dieses atemlose blinde Spiel...

Ein paar Gedanken aus dem Film


202-zeitung.jpg

«Ich glaube, der Sinn der Literatur liegt nicht darin, dass Inhalte vermittelt werden, sondern darin, dass das Erzählen aufrecht erhalten wird. Weil die Menschen Geschichten brauchen, um überleben zu können. Nur das Leben, das man sich selbst erzählen kann, ist ein sinnvolles.»

«Schriftsteller sein zu dürfen, das ist ein Luxus. Ein Luxus besteht darin, dass man es nicht können muss. Fachleute sind nicht gesucht in diesem Geschäft. Man muss nicht besser werden. Im Gegenteil: Man muss sich seine Naivität bewahren, die Naivität zurückkämpfen.»

«Ich bin sehr gern in die Schule gegangen als Lehrer. Ich habe die Schüler in den Ferien vermisst. Sie waren verunsicherte Schüler, ich war ein junger, verunsicherter Lehrer. Und ich hatte nach jeden Ferien, nach drei Wochen Ferien oder nach fünf Wochen Ferien grässliches Lampenfieber. Ich wollte nicht vor ihnen scheitern. Und nicht vor ihnen scheitern wollen, das heisst, sie ernst nehmen. Einer der nur Macht ausübt, dem ist es wurst, wenn er scheitert. Er hat ja die Macht.»

Einwurf: Du hast mir einmal gesagt: Das Gute an der Ehe sei, dass man bereits verheiratet sei. Antwort: «Wenn man schon verheiratet ist, passiert einem der Blödsinn nicht zu heiraten. Was man alles zusammen heiraten würde, wenn man nicht verheirat wäre! Ich habe mich immer als Junggeselle verstanden. Und Therese hat mir das zugestanden.»

Frage: Die Ehe ist also eine sehr sinnvolle Institution? Antwort: «Ich bin nicht so sicher, ich bin nicht so sicher. Sie kann in Sachen Liebe eine Katastrophe sein. Liebe ist etwas total Asoziales. Und das ist so schön an der Liebe, dass sie asozial ist. Ich hasse sonst alles Asoziale. Aber die Liebe hat asozial zu sein. Sie ist es. Ehe ist ein Versucht, der Gesellschaft, die Liebe zu sozialisieren, nämlich entlieben.»

«Wenn man beobachtet, sieht man nichts. Man muss schauen. Wenn man beobachtet, weiss man zum vornherein, was passieren sollte. Schauen ist etwas Anderes, etwas viel Passiveres und Kontemplatives. Beim Schauen schaut man immer auf zwei Seiten, nach aussen und nach innen.»

«1968: Es war eine wunderbare Zeit der Hoffnung. Man hat gehofft. Man war ganz sicher, dass die Welt in zwanzig Jahren zwar wohl nicht so aussehen wird, wie die 68er das forderten in ihren Demonstrationen, aber dass sie anders aussehen wird und humaner aussehen wird. Und die Hoffnung dauert auch fast zwanzig Jahre nach 68. In den letzten paar Jahren haben die Bösewichte sich alles wieder zurückgeholt.»

«Ich glaube, erst nach der totalen Katastrophe ist ein Neubeginn möglich. Ich fürchte mich aber vor der totalen Katastrophe. Die Katastrophe ist ein zu hoher Preis und das Risiko ist zu hoch.»

«Ich bin ein überzeugter Pessimist, weil ich nicht den geringsten Anlass für Optimismus sehe in unserer Welt. Und weil die Optimisten immer daran waren, diese Welt zu zerstören. Es gab keinen einzigen pessimistischen Diktator auf der Welt.»

«Wir verschanzen uns immer noch in den Gedanken, dass wir die grossen Profiteure der Welt sein könnten. Wir verteidigen das Bankgeheimnis bis aufs Letzte. Da glaube ich allerdings, nicht mehr so lange.»

«Ich möchte schon, dass mir die Zeiten ab jetzt, ich bin 74, als lang erscheinen wird, ich hoffe auf langweilige Zeiten und ja nicht kurzweilige. Ich möchte, dass die kurze Zeit, die mir noch bleibt, lang wirkt.»

Ein Dossier zum Film gibt es unter www.achaos.ch ab 25. März.