Sister

Der zwölfjährige Simon fährt im Winter mit einer Gondelbahn vom Industriegebiet im Tal, wo er allein mit seiner Schwester Louise lebt, nach oben, in ein prächtiges Skigebiet. Dort stiehlt er reichen Touristen Skier und Ausrüstungen, um sie an die Kinder seines Wohnblocks zu verkaufen.

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Simon mit seinem Komplizen in Action

Er erzielt damit ein bescheidenes, aber regelmässiges Einkommen. Diese Machenschaften nehmen mit der Zeit immer grössere Ausmasse an. Louise, die vor kurzem ihre Stelle verloren hat, profitiert davon und wird immer abhängiger von Simon. – Soweit ein kurzer Abriss der Geschichte.

Mit einer solchen Vorlage dreht der eine Filmemacher einen banalen, der andere einen rührseligen Streifen, einen Krimi vielleicht oder einen Moraltraktat, ein Melodrama oder einen Actionfilm. Die schweizerisch-französische Filmemacherin Ursula Meier schuf damit «Sister» (in der welschen Schweiz «L’Enfant d’en haut») und damit ein grossartiges, vielschichtiges und vieldeutiges, ein faszinierendes und beeindruckendes Meisterwerk, das dieses Jahr zu Recht in Berlin mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet worden ist. Einer grösseren Öffentlichkeit bekannt wurde die Autorin 2008, als ihr erster Kinospielfilm «Home» in Cannes in der Semaine de la Critique lief. Mit ihrem neuen Werk zeigt sie, dass in der Kunst nicht das Was, also die Geschichte, sondern das Wie, die Gestaltung und Interpretation, über Machwerk oder Kunstwerk entscheidet.

Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=3SqFYl82eMc

Wie gelingt es der Filmemacherin, aus dieser einfachen Vorlage ein grosses Werk zu realisieren? Verschiedene Gründe sind es, denen ich hier nachgehe.

Fürs Erste ist es, so scheint mir, die intensive Nähe zu Simon und Louise, die der Film erzeugt: nicht bloss eine äusserliche, sondern eine innerliche. Wir kommen Simon nah, wenn er mit seinen zarten Händen Brillen und Helme bearbeitet oder sich in seinem feingliedrigen Körper vor dem Kleiderkasten im Tal für oben oder für unten umzieht, oder wenn Louise immer wieder aufgibt und davonläuft, wenn sie sich gehen lässt und aufgibt. Hautnah stehen wir zwischen Louise und Simon, wenn sie im Tohuwabohu ihrer Gefühle untergehen oder sich wieder erheben. Damit wird die im Film gezeigte Realität unsere Realität. Dafür war die Arbeit der ganzen kreativen Crew verantwortlich: Agnès Godard als Chefkamerafrau mit ihren Bildern, die im Äusseren das Innere zeigt, John Parish mit seiner Musik, die die Handlung emotional begleitet und vertieft, und Nelly Quettier mit ihrer Montage, die die Handlung rhythmisiert und nahtlos von einer Ebene in die andere überführt – allesamt der Vision von Ursula Meier folgend.

Die konkrete, exakt abgebildete äussere Wirklichkeit erscheint wie „durchsichtig“, durch sie schauen wir auf eine innere Wirklichkeit. Vergleichbar «durchsichtige», auf eine andere Wirklichkeit verweisende Bilder kenne ich in «Pickpocket» von Robert Bresson oder Filmen von Theo Angelopoulos oder Hirokazu Kore-eda, in der Schweiz unter den Alten bei Alain Tanner und bei den Jungen bei Stéphanie Chuat und Véronique Reymond. Die gleiche «Durchsichtigkeit», die vom Aussen zum Inneren führt, zeichnet den Film von Ursula Meier aus. «Der Film kennt kein „rein Äusserliches“ und keine „leere“ Dekorativität. Eben weil im Film alles Innere an einem Äusseren zu erkennen ist, darum ist auch an allem Äusseren ein Inneres zu erkennen», formulierte vor bald hundert Jahren der ungarische Filmtheoretiker Béla Balàsz ein Ziel der Siebten Kunst. Das Äussere erhält in diesem Film seine Tiefe, seine Würde; das Innere seine Evidenz, seine Wirkung, beides zusammen erschafft Sinn.

Das erste Filmsehen war ungewohnt und seltsam: Während der ganzen 97 Minuten veränderte sich der Film – mein Film! – mehrmals. Den ersten Teil, wo Simon bei seinen Diebestouren gezeigt wird, erlebte ich als Verherrlichung des Stehlens, und ich war empört. Dies änderte sich doch bald. Er wurde zum Gleichnis einer berührenden zwischenmenschlicher Solidarität, was mich berührte. Und weitere Deutungen folgten. Der Film wurde zur Parabel über Geld als gesellschaftliches Tauschmittel für Arbeit, Macht, Liebe und menschliche Beziehungen. Und weiter veränderte sich mein Film. Er wurde zum Diskurs über verschiedene Vorstellungen von Moral. Und nochmals erlebte ich ihn anders. Er wurde zum Welttheater der Reichen dort oben und der Armen da unten. Eine besondere Qualität von «L’Enfant d’en haut» ist es, dass er dermassen verschiedene Deutungen evoziert und zulässt. Frappierend zeigt er die Relativität der Wahrnehmung dessen, was «für wahr» genommen wird.

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Liebenswürdig und hinterhältig mit Touristin

Diese Realität steht nicht nur für die Personen im Film, sondern stellvertretend, gleichnishaft für uns alle. Dies ist fürs Erste das Verdienst der Filmemacherin und zum Zweiten unser eigenes Verdienst. Etwas vereinfacht gesagt: Die Hälfte eines Filmes ist das Werk der Filmemacher, die andere unser Mit- und Dazutun. Ich mit meinem Hintergrund an Erfahrungen, an Wissen und Emotionen trage meinen Teil bei zum Ganzen eines Filmes. Doch Ursula Meier lässt mir die Freiheit für diesen Prozess der Nachschöpfung.

Dieser Film war für mich ein ästhetisches Abenteuer. Dieses Sowohl-als-auch, diese Mehrdeutigkeit, Unsicherheit und Unbestimmtheit, Unschärfe und Offenheit beeindruckt mich und macht «Sister» in meinen Augen zu einem modernen Kunstwerk: unbestimmt, vieldeutig und offen. – Ich möchte die Geschichte nicht weiter beschreiben und interpretieren, sondern – wie die Filmautorin – dies jeder Zuschauerin und jedem Zuschauer überlassen …

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Simon mit der Beute seiner Einsätze

Nach einem ersten Filmsehen – und vor einem zweiten – empfiehlt sich die Lektüre der «Anmerkungen der Autorin Ursula Meier» zu ihrem Film, in meinen Augen einer der schönsten und klügsten Texte zum Filmmachen und zum Filmschauen.