Marie Heurtin

Menschwerdung: Jean-Pierre Améris erzählt in seinem Spielfilm «Marie Heurtin» die wahre Geschichte eines gehörlosen, blinden und wilden Mädchens. Schön und gross wie Weihnachten.
Marie Heurtin

Ein junges Mädchen, mit seinem Vater auf einem Pferdefuhrwerk. Es scheint, obwohl festgebunden, die Fahrt zu geniessen. Ihr Ziel ist das Institut Larnay. Dort angekommen, hebt der Mann das vierzehnjährige Kind vom Wagen, trägt es zu den Nonnen und bittet um Aufnahme für seine Tochter Marie (grandios gespielt von Ariana Rivoire, die auch im realen Leben gehörlos ist). Kaum steht sie auf dem Boden, reisst sie aus und klettert auf einen Baum. Schwester Marguerite (Isabelle Carré, ebenfalls grossartig verkörpert) bekommt den Auftrag, das Mädchen herunterzuholen.

Die Mutter Oberin verweigert dem Mädchen die Aufnahme, das Heim sei auf taube, nicht auf gehörlose und blinde Kinder spezialisiert und könne sich nicht genügend um Marie kümmern. Der enttäuschte Vater zieht mit ihr von dannen, ihm bleibt nur noch die Unterbringung in einer Irrenanstalt. Schwester Marguerite jedoch hat die erste Begegnung mit der vierzehnjährigen Marie zutiefst berührt. Sie schreibt in ihr Tagebuch: «Heute bin ich einer Seele begegnet, die durch die Gitter ihres Gefängnisses wie tausend Lichter strahlt.» Wie aber kann sie mit dem Mädchen, das in einer Welt der Dunkelheit und Stille eingeschlossen ist, kommunizieren? Diese Frage lässt die junge Nonne nicht mehr los. Maries Schicksal wird ihre Mission. Sie kann die Oberin überzeugen, das Mädchen zu behalten.

Das wilde Mädchen bringt das geordnete Klosterleben durcheinander. Weshalb es im Tagebuch weiter heisst: «Jeder hat sein Kreuz zu tragen. Nach vier Monaten hat Marie noch keine Fortschritte gemacht. Sie benimmt sich nach wie vor wie ein wildes Tier, zeigt keinerlei Interesse, etwas zu lernen. Keinerlei Fortschritte. Im Gegenteil. Maries Zustand hat sich sogar verschlechtert, seit sie hier ist.» Erst nach Monaten und Jahren zeigen sich erste Ansätze einer positiven Veränderung, erwacht Marie immer mehr, beginnt ihre Menschwerdung.

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Schwester Marguerite, Mutter Oberin und Marie Heurtin

Jean-Pierre Améris zu seinem Film

Das Projekt begann mit meiner Faszination für das Schicksal von Helen Keller. Bei meinen Recherchen stiess ich auf die weniger bekannte Geschichte von Marie Heurtin und entschloss mich spontan, das Larnay Institut bei Poitiers zu besuchen, wo Marie am Ende des 19. Jahrhunderts lebte. Das Institut ist auch heute noch ein Zentrum für taube und blinde Kinder.

Es fällt mir schwer, zu beschreiben, wie ich mich fühlte, als ich diese Kinder sah, die nur mit ihrem Tastsinn kommunizieren können und gleich meine Hände und mein Gesicht ertasten wollten. Ich fühlte mich hilflos in der Kommunikation mit ihnen. Ich traf auch die Eltern dieser Kinder, die mir von den Schwierigkeiten erzählten, die sie zu bewältigen haben.

Nach meinem Besuch hatte ich das Gefühl, Maries Geschichte erzählen zu müssen. Was mich daran fasziniert, ist die aussergewöhnliche Figur der Schwester Marguerite. Ihre unverrückbare Überzeugung, dass es ihr gelingen wird, Marie aus ihrem inneren Gefängnis zu befreien. Das Band, das Marie und Schwester Marguerite verbindet, steht für etwas Aussergewöhnliches: Eine Nonne erlebt etwas, was für sie nicht vorgesehen ist, mütterliche Liebe. Diese enge Verbindung schliesst allerdings auch den schmerzhaften Lernprozess der Trennung mit ein, den Marie bei Marguerites Tod erfahren muss.

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Tastend erkennt Marie Schwester Marguerite

Das Mysterium einer Menschwerdung …

Der Film folgt der Geschichte, die sich wirklich zugetragen hat. Der Bezug zum historisch Faktischen gibt dem poetisch Symbolischen seine Überzeugungskraft und Relevanz. Als Schlüssel zu diesem inhaltlich wie formal wunderbaren Film des 1961 in Lyon geborenen Regisseurs, Koautors und Drehbuchautors Jean-Pierre Améris diente mir ein Text von Erich Fromm: «Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang. Das Ziel des Lebens ist es, ganz geboren zu werden. Zu leben bedeutet, jede Minute geboren zu werden.» In diesem Sinne ist für mich «Marie Heurtin» der tiefste und schönste Film über eine Menschwerdung, genauer das Wachsen und Reifen eines Menschen. Durch Zuneigung, Anteilnahme, Engagement, Hartnäckigkeit und Liebe. In diesem Sinn den Film betrachtet, wird jede Szene schöner als die andere, jedes Bild tiefer als das andere, jeder Satz bedeutender als der andere.
Aufschlussreich erweist sich auch der Vergleich mit Filmen wie «L’enfant sauvage» von François Truffaut, «Jeder für sich und Gott gegen alle» von Werner Herzog, «The Miracle Worker» von Arthur Penn und einem Theaterstück wie «Die Geschichte von Kaspar Hauser» von Alvis Hermanis, weil sie das ähnliche Thema von einer je anderen Perspektive aus beschreiben.

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Auch den Schnee begreift Marie mit den Händen

… der Erziehung und der Bildung,

Schwester Marguerite erlebt die Begegnung mit Marie nicht als medizinisches, pädagogisches oder psychologisches Experiment, sondern als eine ihre ganze Person ergreifende Herausforderung. «Sie hat mich erwartet», schreibt Marguerite in ihr Tagebuch, nachdem sie Marie zum ersten Mal berührt hat. Was hier abläuft, ist der Akt tief erlebter Bildung, wie ihn Martin Buber beschreibt. Die Begegnung mit dem Wesen, das Marguerite als «wildes Tier» bezeichnet, kommt von einem «Ich», geht zu einem «Du» und wir so ein «Wir». Weiter führt das Lehren und Lernen zu Gegenständen, zum «Es». Marguerite bringt Marie das Essen, Trinken, sich Kleiden bei, also Kulturtechniken. Und bald schon folgt die «Explosion der Sprache»: Brot, Gabel, Karotte, Apfel und vieles mehr lernt Marie mit ihren Fingern zu symbolisieren, findet die Wörter und schliesslich die Buchstaben dazu. Es entsteht Bildung.

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Marie geniesst die Schönheit der Tomaten

… des Sterbens und des Todes

Als eine ältere Klosterfrau stirbt, lernt Marie verstehen, was Sterben heisst, denn Marguerite hat sie darauf vorbereitet, wohl wissend, dass auch ihr Ende naht. Als es bei ihr soweit ist, kümmert das Mädchen sich liebevoll um die Todkranke. Als diese schwächer wird, verbietet sie den Mitschwestern, Marie zu sich zu lassen, ihr Sterben will sie ihrem Schützling ersparen. Doch diese akzeptiert das nicht. Sie will Marguerite noch einmal sehen, ehe sie stirbt, und protestiert so lange, bis sie reingelassen wird und sie sich voneinander verabschieden können. «Lebe! Lebe!», gibt die Sterbende ihr auf den weiteren Weg. Nach dem Tod bringt Marie Blumen an Marguerites Grab, spricht mit ihr ins Jenseits hinüber, erzählt von ihren Fortschritten und davon, dass sie sich um ein kleines Mädchen kümmere, das taubblind in Larnay eingetreten ist.

Marie Heurtin, die 1885 geboren wurde, blieb ihr Leben lang in Larnay, wo sie am 22. Juli 1921 im Alter von 36 Jahren starb.


Titelbild: Marie Heurtin und Schwester Marguerite: eine Seelengemeinschaft

Pädagogisches Dossier:

 

Regie: Jean-Pierre Améris
Produktionsjahr: 2014
Länge: 95 min
Verleih: Filmcoopi