Kuzu

Ein Junge als Opferlamm: Kutluğ Ataman drehte über eine Beschneidung in einem fiktiven anatolischen Dorf den bewegenden und nachdenklichen Film «Kuzu»
Kuzu

Landschaften wie Seelenlandschaften

Der Spielfilm «Kuzu» (Das Lamm) spielt in der ostanatolischen Provinz Erzincan, wo der Regisseur Kutluğ Ataman einst seine Kindheit verbracht hat. Der Landstrich, in dem die Handlung spielt, ist öde und einsam. Die Bilder davon strahlen keine Romantik, sondern Kargheit und Kälte aus. Man glaubt, den Dreck an den Schuhen und die Kälte in den ärmlichen Wohnungen der Bewohner körperlich zu spüren. Der Film erzählt eine traurige und gleichwohl humorvolle Tragikomödie über die ökonomischen und emotionalen Missstände einer Kleinfamilie, die unter dem Druck ihrer Dorfgemeinde zu zerbrechen droht.

Oben im Hochland Ostanatoliens verlangt die Tradition, dass ein Lamm geschlachtet und ein grosses Fest gefeiert wird, wenn ein Knabe beschnitten wird. Der kleine Mert muss sich einer solchen Handlung unterziehen. Vater Ismail bringt das nötige Geld nicht zusammen, obwohl auch Mutter Medine den kärglichen Lebensunterhalt mit ihrer Waldarbeit unterstützt. Niemand im Dorf schenkt ihnen ein Lamm, obwohl sie alle schliesslich als Gäste eingeladen sind. Schwester Vicdan reizt und ängstigt boshaft ihren Bruder: Wenn der Vater kein Lamm auftreiben kann, wird er den eigenen Sohn schlachten. Eine dramatische Suche nach einem Lamm, respektive dem Geld dafür, beginnt. In die nahegelegene Stadt, in welcher Ismael eine Anstellung im Schlachthaus erhalten hat, kommt eine Prostituierte. Wegen Machenschaften seiner Arbeitskollegen und seiner Abhängigkeit von der «Künstlerin» schwinden ihre letzten Finanzen und wird der Kauf eines Lammes noch unwahrscheinlicher. Doch Medine und Mert geben nicht auf, bis von unerwarteter Seite eine Lösung kommt.

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Medine, die sorgende Mutter von Mert

 

Kutluğ Ataman, der Regisseur

«Kuzu» ist der fünfte Film von Kutluğ Ataman, des 1961 in Istanbul geborenen Filmemachers und bildenden Künstlers, der in Los Angeles und an der Sorbonne studiert und es zu internationaler Reputation gebracht hat: beste Regie, bestes Drehbuch, Jury-Preis als Filmemacher; Ausstellungen im Moma und in der Tate, Teilnahme an den Biennalen von Istanbul, Venedig, Berlin, der Documenta in Kassel und Nomination für den Turner-Preis als Installationskünstler. In diesem, seinem künstlerischen Werdegang gründet wohl die beeindruckende und kluge Erzählweise und die gelungene Visualisierung der Geschichte mit Einstellungen von grosser Harmonie und Landschaftsbildern als hintergründige «paysages d’âmes».

«Wenn die gemeinsamen Werte, nach denen eine Gemeinschaft lebt und die sie verteidigt, aus irgendeinem Grund nicht realisiert werden können, wie gehen dann die Menschen, die Bausteine dieser Gemeinschaft, damit um?», fragt Ataman die im Film Handelnden: Medine, die von der Gemeinde und ihrem Mann zum Zeitpunkt, in dem sie Unterstützung bräuchte, im Stich gelassen wird und verzweifelt um Anerkennung und die Ehre der Familie kämpft; weiter die Gesellschaft als Ganzes, die so ist, wie sie ist, und im Grunde von staatlichen und religiösen Autoritäten gesteuert wird.

Atamans Film zeichnet sich durch eine grosse Liebe zu seinen Figuren aus: Vordergründig beschreibt er die seelischen Nöte der verunsicherten Kinder, die Irrwege des überforderten Vaters und der betrogenen Mutter, obwohl zwischen diesen kaum etwas von Liebe und Zärtlichkeit, sondern nur Distanziertheit und Gewalt wahrzunehmen sind. Hintergründig leuchtet er die Gewohnheiten und Rituale der Bevölkerung aus, vor allem bei Ismael und den andern Männern, und lädt zur Diskussion darüber ein, ohne sie zu beurteilen oder zu verurteilen. In den heiteren Momenten der Geschichte schimmert gar etwas wie Befreiung, ja Emanzipation auf, bei einigen Frauen, vor allem aber bei Medine, bis sich schliesslich eine Lösung findet, die ihr und den Kindern einen Weg in die Zukunft eröffnet – eine glückliche Wendung in der atmosphärisch wie seelisch jedoch weiterhin winterlich kalten Welt Anatoliens.

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Mert, von seiner Schwester böswillig verängstigt

Emanzipation: wovon und wofür?

Die Arbeit auf den Feldern, die Versorgung der Ehemänner, der Kinder und der Verwandten sind im zeitgenössischen Anatolien, wie der Film es beschreibt, fast ausschliesslich den Frauen aufgebürdet. Das Gewicht dieser Verantwortung wird in der Bevölkerung weder erkannt noch anerkannt. «Mein Ziel ist es, das Aufeinandertreffen von modernisierenden und traditionellen Kräften zu veranschaulichen», schreibt der Regisseur. Mir scheint jedoch, dass der Film über diese Erklärung hinaus geht und motiviert, nach den Gründen für diese Situation zu fragen.

Sowohl das Alte Testament, das Neue, welches das Alte fortsetzt, wie der Koran kennen die Geschichte von Abraham, von dem Gott verlangt, ihm seinen Sohn zu opfern. Eine Aufforderung, an die die Drohung im Film erinnert, mit der Vicdan Mert Angst einjagt, er müsse, da sie kein Lamm hätten, selbst getötet werden. Das Archetypische dieser Lamm-Geschichte, für mich der Nucleus des Films, gibt es im Judentum, wo diese Haltung radikalisiert wird, im Christentum, wo sie in die Liturgie und Kunst einfliesst, und im Islam, wo brutale Tötungen auf göttliches Geheiss der IS-Terroristen gerade heute die Welt erschüttern. Hier wie dort sind vor allem Frauen die Opfer, was auf einer fundamentalen Männerherrschaft und Frauenerniedrigung beruht. Beide, der Gehorsam gegen Gott und die Verachtung der Frau, stützen sich gegenseitig. Nicht zufällig, sondern mit einer weiterführenden Bedeutung wird die Prostituierte Safiye in die Geschichte eingeführt.

«Kuzu» ist eine sarkastische und gleichwohl anteilnehmende Familiengeschichte mit alltäglichen Sorgen, welche den Menschen das Leben erschweren, anderseits ein zeitloses Gleichnis über menschliche Verhaltensweisen, Ängste, Wünsche und Hoffnungen. Ein Werk auch, bei dem es um eine Neubestimmung der Rolle von Tradition und Religion geht, in den Worten des Dorfvorstehers, um Familie, Nation und Staat. Wenn einem bei all der visuellen und akustischen Schönheit des Films solche Hintergründe bewusst werden, kann einem, wie beim Mahl gegen Schluss des Films, schon mal das Lammragout im Hals stecken bleiben.

Regie: Kutluğ Ataman
Produktionsjahr: 2014
Filmlänge: 87 min.
Verleih: LookNow