Das Album meiner Mutter

Ein ungewöhnlicher Film über das gewöhnliche Leben einer Mutter

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Damit das Leben seiner Mutter nicht vergessen wird, beschliesst der Filmemacher Christian Iselin, ihr Leben aufzuzeichnen, was für ihn bedeutet, mit Kamera und Mikrofon dabei zu sein, wenn sie beim Durchblättern alter Fotoalben zu erzählen beginn, in ihre Vergangenheit eintaucht und uns dorthin mitnimmt. Um ihr persönlich näher zu kommen, schiebt er seine Rolle als Filmer in den Hintergrund und spricht mit authentisch als ihr Sohn. Die Kamera «parkt» er im Altersheim und lässt sie laufen, wenn die Mutter ihm etwas aus ihrem Leben, von ihrem Mann oder über die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit erzählen möchte.

Ihr Mann wuchs als Bauernsohn im Emmental auf, geprägt hatten ihn seine Erlebnisse im Krieg und das Arbeiten für die Familie. Auf seinem letzten Foto, das die Mutter betrachtet, hält er stolz sein erstes Urgrosskind in den Armen. Alt und gebrechlich, wehrte er sich gegen einen Umzug ins Altersheim und durfte schliesslich in der Nacht vor dem gleichwohl verordneten Umzug noch zu Hause sterben. Aufhorchen lässt uns Heutige ihre Erzählung, wie sie sich in einen Soldaten verliebte, der später ihr Geliebter wurde, dieser sie in die Stadt mitnahm, um Ringe zu kaufen, als seine Form des Heiratsantrages, nachdem er «geträumt hatte», sie sei schwanger, und sie es bereits «wusste». Gegen Ende ihres Lebens kam sie in ein Altersheim, wo sie sich teilweise sehr einsam fühlte. Am Ende der langen Erzählungen wird auch die Mutter immer schwächer und ist schliesslich mit 94 Jahren gestorben - ohne dass der Sohn mit seiner Kamera dabei war.

Interessant und aufschlussreich erlebt man die Stimmung, die Atmosphäre dieser Paarbeziehung: etwas gewöhnlich Nüchternes, lange Vertrautes, Alltägliches und Selbstverständliches. Diese Bilder und die kommentierenden oder abschweifenden Geschichten bezeugen eindrücklich, wie sich das Verhältnis zwischen Mann und Frau im letzten Dreivierteljahrhundert verändert hat.

Der Autor Christian Iseli ist freischaffender Filmemacher und Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK, Fachrichtung Film. Seit dem Studium der Geschichte, Germanistik und Anglistik in Bern dreht er Dokumentarfilme und arbeitet in den Bereichen Schnitt und Kamera bei Spiel- und Dokumentarfilmen mit. Vor dem 71-minutigen Dokumentarfilm «Das Album meiner Mutter» (2011) drehte er unter anderem «Bauern zum Trotz» (2006),  «Der Stand der Bauern» (1995), «Grauholz» (1991) und  «Le terroriste Suisse» (1988).

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Das Leben seiner Mutter und seines Vaters und die vergangene Lebenswelt in der Schweiz sind für Iseli Ausgangspunkt für konkrete und gleichzeitig allgemeine Reflexionen über Fotografie, Bilder und das Erinnern in der Form eines Filmessays. Darin vermittelt er uns die Nähe zu einem ihm nahen Menschen, lässt er uns als Fremde Anteil nehmen an seinem Privaten. Das unprätentiöse, liebenswürdige, undramatische Vorgehen versetzt auch uns in ein Gefühl der Nachbarschaft, gelegentlich der Freundschaft, immer jedoch einer gewissen Bekanntheit. Das gewöhnliche Leben dieser Frau wird aussergewöhnlich, weil wir einbezogen sind und es zur Begegnung kommt. Er macht uns vertraut mit dem Einmaligen eines Menschenlebens, dem Leben seiner Mutter, indem er ihre Vergangenheit in die ihre Gegenwart holt. Die Fotos von damals werden durch die Gespräche gegenwärtig, und die Videokamera hilft immer wieder, vom Jetzt aus das Einst zu verstehen und zu begreifen. Er zeigt uns seine Mutter in ihrer selbstverständlichen, stillen Grösse als Teil der Schönheit des Lebens. Und gleichzeitig beschreibt er Hintergründe und skizziert er die Welt, in der sie lebte. Der Film wird zum Dokument, die Mutter zur Zeitzeugin des letzten Vierteljahrhunderts Schweizergeschichte: ein gelungenes Stück «Oral history»!

Bei Menschen, welche die Zeit des Zweiten Weltkrieges und die Nachkriegszeit selbst miterlebt haben, dürfte der Film Erinnerungen an die eigene Kindheit, Jugend und Familienzeit wachrufen und in diesem Erinnern unser Heute mit dem Damals, unser Damals mit dem Heute verbinden, wissend, dass das Vergangene immer Teil der Gegenwart ist – wie zwei Aggregatszustände desselben Elements, etwa Eis von Wasser oder Dampf von Wasser.

Trailer

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