A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence

Highlights aus Absurdistan: Mit hochartifiziellen und absurden Szenen lädt uns Roy Andersson mit dem der Film «A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence» ein, über das Lebens nachzudenken.
A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence

Räume in artifizieller, fast surrealer Architektur

In seinem neuen Film, dem letzten einer Trilogie über die menschliche Natur, führt der schwedische Filmemacher Roy Andersson zwei Vertreter für Scherzartikel, die etwas Freude unters Volk bringen sollen, durch eine Reihe von ästhetisch höchst sorgfältig gestalteten tragikomischen Tableaux. Sam und Jonathan sind die glücklosen, kummervollen Akteure. Als Verkäufer haben sie sich, da sie die Welt als seltsame Angelegenheit erleben, auf die Klassiker der Kuriositäten spezialisiert: Vampirzähne, Lachsack und Monstermasken. Dabei stellen sich die beiden oft umständlich an, denn Freude in einer traurigen Welt verbreiten, ist schwierig. Doch sie müssen weiter arbeiten, denn sie sind pleite.

Der Regisseur hilft uns etwas auf die Sprünge

Auf die Frage, warum er in diesem Film keine in sich geschlossene Geschichte erzähle, antwortet der 71-jährige Roy Andersson: «Ich bin der Überzeugung, dass jeder Film immer für sich allein stehen können muss. Sogar innerhalb des Films kann jede Szene unabhängig betrachtet werden. „A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence“ hat 39 Szenen, und ich hatte den Ehrgeiz, dass jede davon dem Publikum eine künstlerische Erfahrung vermitteln kann. Insgesamt versucht der Film, die Zuschauer herauszufordern, ihr eigenes Leben zu betrachten, indem er fragt: „Was tun wir? Wohin gehen wir?“ Er soll zur Besinnung über unser Leben anregen, und zwar mit einem grossen Stück Tragikomik, Lebenslust und fundamentalem Respekt für das menschliche Dasein. Meine Filme zeigen, dass die Menschheit sich potenziell in Richtung Apokalypse bewegt, aber auch, dass wir unseren Weg selbst in der Hand haben. Mein Film zeigt viele Traumszenen ohne weitere Erklärung, er ist deshalb auch übermütiger als meine früheren Filme und von Lebenslust bestimmt, auch wenn die Figuren oft traurig sind und es gar nicht einfach haben.» Weitere erhellende Erklärungen sind den angehängten Interview-Auszügen mit Roy Andersson zu entnehmen. Teil 1 und 2 der Trilogie waren: «Songs from the Second Floor“ (2000) und «You the Living» (2007).

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Alltägliche Handlungen: stilisiert, überhöht, bedeutungsvoll

Ästhetisch ein Hochgenuss, inhaltlich ganz schön fordernd

Der Film beginnt mit drei Begegnungen mit dem Tod: In der Ersten stirbt ein Mann beim energischen Versuch, eine Flasche Wein zu entkorken, an einem Herzinfarkt, während seine Frau in der Küche unbeirrt das Abendessen weiter zubereitet. Dann umklammert eine alte Frau auf dem Totenbett eine Handtasche voll Schmuck, während ihre Söhne versuchen, ihren Griff zu lösen, um an die Tasche zu kommen: «Du darfst das nicht in den Himmel mitnehmen, Mutter, du bekommst im Himmel neuen Schmuck.» Weiter liegt ein Passagier tot in der Cafeteria einer Fähre, neben seinem soeben bezahlten Essen, weswegen die Frau an der Kasse die Gäste fragt: «Will das jemand? Es ist gratis.»

Sam und Jonathan: Verwandte von Don Quijote und Sancho Panza, Laurel und Hardy, Estragon und Wladimir

Im Mittelpunkt des Episodenfilms stehen Sam und Jonathan. Wie Don Quijote und Sancho Panza, gelegentlich wie Laurel und Hardy, manchmal wie Estragon und Wladimir begeben sie sich auf eine Reise durch die Welt des Menschlichen und des Allzumenschlichen. Dabei lassen sie uns deren Schönheiten und Elend, deren Höhen und Tiefen erleben, berühren und provozieren uns, bieten uns Erfahrungen und Entdeckungen, Einsichten und Erkenntnisse, von denen wir einige erfassen, bei andern den Kopf schütteln.

Wie in einem Kaleidoskop scheinen die Szenen auf und verschwinden wieder, teils ohne, meist mit Bezug zu andern. Hier einige Beispiele: Der Kapitän der Fähre hat das Seemannsleben hinter sich gelassen und betreibt nun einen Friseursalon, sein einziger Kunde hört zufällig, dass er nur militärische Erfahrung im Haareschneiden hat, und verlässt den Salon. Oder die Episode mit einer Flamencolehrerin, die sich an einen Tanzschüler heranmacht, bis dieser fluchtartig den Saal verlässt. Weiter die Szene vor dem Tanzstudio, wo eine Putzfrau am Telefon sagt: «Ich freue mich zu hören, dass es dir gut geht.» Oder jene Sequenz, in der eine Biologin einen Affen für einen Tierversuch präpariert, mit «homo sapiens» untertitelt. Dann sehen wir zwei kleine Mädchen auf einem Balkon mit Seifenblasen spielen. Oder wir werden Zeuge, wie eine Armee aus dem 18. Jahrhundert in Richtung Moskau marschiert, während der König mit seinen Männern in einer heutigen Kneipe Halt macht, die Gäste beschimpft und die Frauen verjagt. Und der Schluss: Britische Kolonialsoldaten stehen um einen riesigen Kupferzylinder, aus dem die verzweifelten Klagen der afrikanischen Gefangenen zu hören sind, die im Inneren langsam an der Hitze zugrunde gehen, was hinüberführt zu sanfter Musik und einem Apéro für die senilen Honoritäten.

So etwa sehen die Szenen aus: gelegentlich unvermittelt, oft durch andere vorbereitet, stellen Fragen, fordern heraus, schockieren, werden verstanden oder nicht: diese schrägen, skurrilen, lakonischen Fragmente einer grossen absurden Tragikomödie. Gelegentlich versteht man sie, kann man sie auf sich beziehen, dann wieder gelingt einem das nicht und man steht fragend vor grossartig gestalteten Bildern – doch meist mit dem Gefühl, dass sie vom verborgenen Zustand unserer Welt handelt, den uns Roy Andersson vorsetzt.

Erklärungsversuch

So erleben wir während hundert Minuten «A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence» die Schönheit und Verwerflichkeit der Existenz. Der im Film am häufigsten gesprochene Satz – «Ich freue mich zu hören, dass es dir gut geht.» – lässt aufhorchen, ist vielleicht ein Schlüssel zum Verstehen und lässt vermuten, dass es den meisten Menschen in Wirklichkeit doch eigentlich nicht so gut geht. Ohne dass ich mir anmasse, alle Szenen zu verstehen, überkommt mich eine eigenartige Faszination für das Dargestellte und das Angetönte. Der Film spielt mit exquisiten, auf den Millimeter genau choreografieren Bildern wie auf verschiedenen Bühnen einer andern Welt und meint doch immer die unsere. Die Episoden, die sich in ihrer Langsamkeit und Getragenheit aus dem Alltag herauskatapultieren, implodieren in einer absurden Welt.

«Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach» verlangt vom Publikum einen Effort, sich auf diese fremde Welt einzulassen, ohne Garantie, am Schluss auch wirklich alles zu verstehen, d. h. ins eigene Bewusstsein einbauen zu können. Doch geht es einem bei Ionesco oder Beckett nicht ähnlich? Und erst im realen Leben? Wer glaubt denn im Ernst, dass wir das, was wir im Alltag als unsere Welt wahrnehmen, wirklich verstehen? Zu einem solchen Abenteuer lädt uns der Magier des nordischen Kinos, Roy Andersson, ein: zu einer Reise hinunter in die existenzielle Einsamkeit und Traurigkeit, doch stets mit Sehnsucht nach und Erinnerung an Zärtlichkeit und Liebe.

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Personen, Tiere, Landschaften: wie auf einem anderen Planeten

Anhang: Aus einem Interview mit dem Regisseur Roy Andersson

Ihre Filme sind von Malern inspiriert, von der Renaissance über die Neue Sachlichkeit bis hin zu Edward Hopper. Welche Maler waren für «A Pigeon Sat on a Branch Reflecting in Existence» am wichtigsten?

Ich würde sagen: Otto Dix und Georg Scholz, beides deutsche Künstler, deren Erfahrungen im Ersten Weltkrieg sie zu ihren künstlerischen Innovationen inspirierten. Ihrer vom verheerenden Krieg geprägten Weltsicht fühle ich mich sehr nahe, obwohl ich selbst nicht am Krieg teilgenommen habe. Als ich aufwuchs, war mir nur der Realismus wichtig. Alles andere war einfach seltsam – genau genommen, bürgerlich – aber mit der Zeit faszinierte mich abstrakte Kunst immer mehr, zuerst der Symbolismus, dann der Expressionismus und die Neue Sachlichkeit. Das ist so viel interessanter als die reine naturalistische Wiedergabe. Heute finde ich es fast langweilig, eine naturalistische Abbildung anzusehen, während die persönliche Interpretation eines abstrakten Ausdrucks aussergewöhnlich ist. Van Gogh ist darin ein Meister. Er kann drei fliegende Krähen über einem Kornfeld malen – und der Betrachter glaubt, niemals zuvor etwas Ähnliches gesehen zu haben. Das ist eine Art «Super-Realismus», den ich auch in «A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence» erreichen will, wo Abstraktion kondensiert, gereinigt und vereinfacht ist. Die Szenen sollten herüberkommen wie geläutert, wie Erinnerungen und Träume. Ja, das ist keine leichte Aufgabe: «C’est difficile d’être facile» – es ist schwierig, einfach zu sein – aber ich versuche es.

Pieter Bruegel der Ältere ist eine andere Inspiration. Zu seinen Renaissance-Meisterwerken gehört eine wundervolle Landschaft mit dem Titel «Die Jäger im Schnee». Von einem verschneiten Hügel, der ein kleines flämisches Dorf überragt, sehen wir Dorfbewohner im Tal auf einem gefrorenen See eislaufen. Im Vordergrund kehren drei Jäger und ihre Hunde von der Jagd zurück. Über ihnen sitzen vier Vögel auf den nackten Ästen eines Baums und sehen neugierig auf die geschäftigen Menschen herab. Bruegel war auf detaillierte, von Bauern bewohnte Landschaften spezialisiert und nahm oft die Perspektive der Vögel ein, um die Geschichte der Gesellschaft und der menschlichen Existenz zu erzählen. Sein Werk umfasst auch phantastische Allegorien der menschlichen Sünden und Torheiten, wobei er meisterhaft die Satire benutzt, um die tragischen Widersprüche des Lebens auszudrücken. In «Die Jäger im Schnee» scheinen die Vögel sich zu fragen: «Was tun die Menschen da unten? Warum haben sie es so eilig?»

 

Glauben Sie, dass es in der Welt immer weniger Mitgefühl und Einfühlungsvermögen gibt?

Jeder zeigt irgendwann Mitgefühl. Meine grosse Sorge ist, und die grosse Sorge von uns allen, dass dieses Gefühl oft im Namen des Gewinnstrebens unterdrückt wird. Ich denke an Emmanuel Levinas, der über das Antlitz des Menschen nachgedacht hat, über den wertvollen Respekt gegenüber der Existenz des Anderen, der anderen Anwesenheit. In einer Szene meines Film bedauert ein alter Mann, dass er sein ganzes Leben lang so gemein und geizig war: «Deswegen war ich so unglücklich», erklärt er dem Kellner.

Aber Worte sind nicht genug, um vollständiges Verständnis zu schaffen – eine Tatsache, die irgendwie den Mangel an Worten in der Trilogie über das menschliche Dasein erklärt. Ich glaube, dass uns das visuelle Portrait des Menschen, sowohl in der Malerei als auch im Film, mehr sagt als Worte. Ich kann es anders nicht erklären. Deswegen mag ich auch Beckett – zum Beispiel «Warten auf Godot», es ist so trivial, lakonisch, voller Missverständnisse. Und doch so wahr.

 

Sie scheinen eine besondere Vorliebe für Vertreter zu haben: Die Figuren ihrer Filme verkaufen Kruzifixe, Kühlschränke und, wie in «A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence» Scherzartikel. Ist das eine Art Selbstportrait?

In gewisser Weise. Es kommt aus meiner Kindheit, von Familienmitgliedern, die Dinge verkauften. Aber ein Verkäufer zu sein ist so universell, es ist so ziemlich das, worum es im Leben geht. Verkaufen und Handeln ist die eigentliche Grundlage einer zivilisierten Gesellschaft, könnte man sagen. Ich muss Förderungen oder Fernsehsender überzeugen, dass etwas interessant und wichtig ist. Ich bin selbst ein Verkäufer, wie wir alle. Wir müssen uns selbst vermarkten und andere mit unseren Sachen und Ideen erreichen.

 

Wie kamen Sie auf die Absteige, in der die zwei Vertreter leben?

Das Hotel stammt direkt aus meiner eigenen Kindheit in Göteborg. Das Haus, in dem ich aufwuchs, ist heute eine billige Absteige, und es ist traurig, mein Bruder, der lange drogenabhängig war, ist dort gelandet. Deswegen kenne ich auch die Schicksale dieser Umgebung. Im weiteren Sinne sind die beiden der Literatur nachempfunden: Don Quijote und Sancho Panza, «Von Mäusen und Menschen» von John Steinbeck, und nicht zu vergessen in der Filmgeschichte: Laurel und Hardy, die auch für Beckett eine wichtige Inspiration waren. Die beiden Scherzartikel-Verkäufer im Film sind eine Art Laurel und Hardy. Einer von ihnen ist ein wenig grosskotzig, der andere ist eigentlich unfähig, er ist trauriger und weint ganz oft. Dieses Duett ist sehr von der Kulturgeschichte inspiriert.

Und in ihrer ungleichen Beziehung stehen die beiden Vertreter für ein allgemeineres Phänomen, die Beziehung zwischen Unterdrücker und Unterdrücktem?

Ja, das wird immer deutlicher. Vorhin habe ich mit meinem Kameramann István Borbás über das weit verbreitete Problem einer Gesellschaft mit immer weniger Solidarität gesprochen. Heutzutage muss man zuerst an sich selbst denken und seinen eigenen Gewinn maximieren, indem man andere übervorteilt. Ich will gar nicht über die schrecklichen Folgen dieses Verhaltens nachdenken. Es ist eine Katastrophe, ein Irrsinn, der den jungen Leuten den Glauben an das Gute austreiben wird.

Ich hasse Erniedrigung, andere Menschen erniedrigt zu sehen und selbst erniedrigt zu werden. All meine Filme drehen sich irgendwie um Erniedrigung. Ich komme aus der Arbeiterklasse und habe gesehen, wie sich Verwandte vor ihren Vorgesetzen selbst erniedrigen, einen übertriebenen Respekt für Autorität zeigen, der ihnen unmöglich macht, ihre Meinung zu sagen und ihnen nur Schuldgefühle lässt. Das habe ich mein ganzes Leben lang erlebt, und ich habe beschlossen, dagegen zu kämpfen.

 

Und waren Sie bei diesem Kampf erfolgreich?

Ja, in dem Sinn, dass ich nicht wie meine Grosseltern bin und nicht das kleinste bisschen Angst vor den herrschenden Klassen habe. Aber ich werde mein Leben lang mit dieser Erniedrigung leben und mit dem Hass auf Autorität. Das ist auch der wichtigste Grund für die häufigen Karikaturen von Königen in meinen Filmen. Es ist eine Art Blasphemie gegenüber der Geschichte der herrschenden Klassen. In «A Pigeon Sat on a Branche Reflecting on a Existence» gibt es auch eine präzise arrangierte Szene, in der ein schreckliches Verbrechen in einen fiktiven historischen Kontext gestellt wird. In der Kombination von Grausamkeit und Schönheit ist das fast eine Provokation. Ich beziehe mich auf die Massenvernichtungsszene gegen Ende des Films. Britische Kolonialisten treiben Sklaven in einen Kupferzylinder, und aus den letzten Schreien der Opfer entsteht eine langsame, wundervolle Musik.

 

Behalten Sie Ihren Stil bei, mit weiten Bildkompositionen und einer statischen Kamera, aufgenommen in einer einzigen Einstellung?

Ja, diese Arbeitsmethode erlaubt mir, meine Figuren in dem Universum, das sie umgibt, zu verorten, anstatt sie zu isolieren. Ich kann Filme mit ständigen Schnitten, die die Handlung vorantreiben, noch nicht einmal sehen. Ich bin diesen visuellen Werten verpflichtet, um so Raum für eine offenere, demokratischere Komposition zu schaffen.(…) Ich betrachte meine Arbeit als Parteinahme für das klare Denken. Alles ist da, komplett ausgeleuchtet. Mit meinen Mitstreitern versuche ich, der «Feindseligkeit gegenüber dem klaren Denken» den Kampf anzusagen

Regie: Roy Andersson, Produktionsjahr: 2014, Länge: 100 min., Verleih: LookNow